11. Februar 1998 Interaktiv

Das Internet als Ort interaktiver Geschichtenerzähler

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Die Website zur Filmserie "Heimat" soll zur multimedialen Geschichtswerkstatt ausgebaut werden

VON GUNTER BECKER

Fernsehen wird im Netz erst schön. So dicht sind die beiden Medien mittlerweile ineinander verwoben, daß die Internet-Filialen populärer TV-Serien fast schon ein Eigenleben führen. So lockte Sat1 Online Besucher mit "Heißen Bildern" zu den Internetseiten und hinter die Kulissen des "Königs von St.Pauli ". Die Site der Lindenstraße verrät gar vorab, was in Deutschlands berühmtester Straße nächste Woche passieren wird. Vergessen die 60er Jahre, als der Satiriker Wolfgang Neuss mit seiner subversiven Vorab-Auflösung einer bekannten Krimireihe die ganze Fernsehnation empörte und Morddrohungen erntete. Heute, im Zeitalter überfließender Kanäle, findet man nur noch selten an demselben elektronischen Lagerfeuer zusammen. Dafür aber umso öfter auf der Site zur Serie, im "Gute Zeiten Schlechte Zeiten"-Chat oder im "X-File"-Forum.

Daß auch eine der spektakulärsten Produktionen der jüngeren deutschen Fernsehgeschichte, die Filmreihe "Heimat" von Edgar Reitz, eine Online-Fangemeinde hat, sollte deshalb eigentlich niemanden verwundern. Zumindest Reitz selbst war dann aber doch überrascht, als er feststellte "daß sich im Internet eine HEIMAT-Gemeinschaft gebildet hat, die ihren Enthusiasmus über mein Film-Epos teilt und untereinander Kontakt sucht, Geschichten erzählt, Bilder und Erinnerungen austauscht."

Der Heimat-Epos, als Trilogie angelegt, zog bei der Ausstrahlung der ersten Staffel ("Heimat" 1984) und deren Fortsetzung ("Die Zweite Heimat" 1992) Millionen vor die Bildschirme und wurde gleichzeitig zu einem Exportschlager der deutschen Filmindustrie. Für die Jahrtausendwende ist eine dritte abschließende Serie ("Heimat 2000") geplant, die deutsche Zeitgeschichte zwischen der Wiedervereinigung und der Jahrtausendwende zum Hintergrund haben wird. Weil die Reihe aus dem persönlichen Erinnern, Berichten und Weiterspinnen von Familiengeschichten entstanden ist und weil das Internet zum interaktiven Geschichtenerzählen geradezu einlädt, will man Heimat-Fans und Hobby-Historiker jetzt über die Website www.heimat.net ins TV holen.

Als technischen Partner hat sich Reitz die Berliner Multimedia-Agentur MediaCube ins Boot geholt. Die Firma aus den Hackeschen Höfen hat bei verschiedenen Gelegenheiten Film und Fernsehen ins Netz gebracht. So betreibt man mit dem MediaWeb einen Server für die Kommunikationsbranche der Region, organisiert bereits zum zweiten Mal die Internetanbindung der Berlinale und überträgt große Events, wie die Kasseler documenta, per WebTV.

In den Augen der Macher scheinen die Heimat-Serie und das Netz wie füreinander bestimmt, "denn nur in diesem Medium ist es möglich, alle multimedialen Elemente zu vereinigen, egal ob es sich um Texte, Bilder, Töne, Bewegtbilder und Animationen handelt", meint MediaCube-Mitarbeiter Harry Baer. Nach dem Willen der Produzenten, soll heimat.net dann auch zu einem gigantischen Text-, Bild- und Tonarchiv der Serie und gleichzeitig zum Online-Heimatmuseum für deutsche Zeitgeschichte ausgebaut werden.

Bei der Ankündigung des Projekts wird mit Superlativen nicht gegeizt. Da ist von einer "umfassenden Website über die Geschichte des 20. Jahrhunderts", einem "Menschheitsarchiv" und einem der "Hauptknotenpunkte im globalen Kommunikationsnetz" zu lesen. Große Worte, denen bis zur Ausstrahlung des dritten Teils der HEIMAT-Trilogie, im Jahr 2000, Taten folgen müssen.

Drei wesentliche Bereiche sollen das heimat.net zukünftig zu einem Treffpunkt für Fans und Geschichtsinteressierte werden lassen: Eine "Heimat-Timeline" will versuchen, auf dem Hintergrund der Filmserie, einen Überblick über die zeitgeschichtlichen Ereignisse des 20. Jahrhunderts zu geben. Eine "Akte Heimat" könnte, wie ein biographisches Archiv, über die Charaktere der Serie informieren. Und im Bereich "Heimat-Interaktiv" will man Zuschauern die Möglichkeit bieten, dem digitalisierten Quellmaterial der Filme eigene Zeitdokumente hinzuzufügen ­ so soll eine virtuelle Geschichtswerkstatt im Netz entstehen. Harry Baer ist sich sicher, daß das Mammutprojekt auch für große deutsche Ton- und Bildarchive, wie das Deutsche Rundfunkarchiv, das Bundesfilmarchiv, die Murnaustiftung und das Filmmuseen in Frankfurt/Main und Potsdam von Interesse ist. "Vorgespräche sind bereits geführt, alle angesprochenen Institute haben positiv reagiert." resümiert er.

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